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Orientierung verloren

Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter,

"Kompass" heißt der neue Song von Udo Lindenberg, passt in die Zeit, finde ich. Um Orientierung geht es, um falsche Geister und "ins Schleudern kommen auf dem Trip, den man Leben nennt". Welche Stimme gilt, welche Richtung, welcher Kompass? Für Udo ist es sein Herz. Klingt irgendwie schnulzig oder?

Orientierung geht leicht verloren im Stimmengewirr über CO2-Ausstoß und Flächenfraß, über Impf-Pflicht und Krankenhaus-Ampel. Und dann sind da ja vor allem auch die persönlichen Fragen oder Sorgen. Wer ist wirklich Freundin oder Freund? Wo ist mein Platz in der Familie, im Beruf?

Wegen der notwendigen Kürze an dieser Stelle komme ich gleich auf den Punkt: Der krasseste Fall von „Orientierung verloren“ ist das, was sich in den 1930er Jahren anbahnte, am 9. November 1938 einen ersten unmenschlichen Ausbruch erfuhr und dann in einer beispiellosen Katastrophe endete. Menschen, die sicher irgendwann mal prima waren, wurden zu Verbrechern. Menschen, die sich gerne an Regeln hielten, verloren jede Orientierung. Am konkreten Beispiel: Am Morgen nach dem 9. November stürmten Männer ungehindert eine Wohnung am Schweinfurter Marktplatz, Ostseite, 1. Stock, vertrieben die Bewohner, schlugen alles kurz und klein bis hin zu den Fensterrahmen und warfen es auf den Marktplatz - dorthin, wo wir sicher schon einmal, vielleicht mit einem Eis in der Hand, entlang gelaufen sind. Daran zu denken ist ebenso lästig und unangenehm wie wichtig und hilfreich, allein schon dafür, um mir klar zu machen, dass ich eine Orientierung brauche, einen jederzeit gültigen Werte-Kompass. Das Herz, wie Udo singt, ist da sicher nicht verkehrt, vor allem dann, wenn es Glaube, Hoffnung und Liebe kennt und in diesem Takt schlägt.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche und einen funktionierenden Kompass, griffbereit.
Ihr Pfarrer Jochen Keßler-Rosa